Globalisierung und Lebensmittelindustrie

Wie österreichische Lebensmittelhersteller es schaffen, trotz widriger Bedingungen international erfolgreich zu sein.

Vor 20 Jahren, am Nachmittag des 12. Juni 1995, versammelten sich im Haus der Industrie am Wiener Schwarzenbergplatz die Geschäftsführer der wichtigsten Lebensmittelhersteller und Gläubiger-Banken, um über die Ausgleichs-Quoten des bankrotten Handelsgiganten Konsum zu verhandeln. Mit diesem Ereignis – nur wenige Wochen nach dem EU-Beitritt – wurde der Grundstein für die wachsende Handels-Konzentration in Österreich gelegt. Denn der Zusammenbruch des größten österreichischen Handelsunternehmens mit dem Unendlich-Zeichen im Firmenlogo und die anschließende Filetierung der rund 690 Filialen an seine Konkurrenten war der Auslöser für eine Entwicklung, die im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte ein Nachfrage-Oligopol im österreichischen Lebensmittelhandel entstehen ließ. Eine Handelskonzentration, die weltweit einzigartig ist. Heute stehen etwa 200 österreichischen Produzenten der Lebensmittelindustrie als Lieferanten nur drei große Handelskonzerne gegenüber, die sich 85,7 Prozent des österreichischen Umsatzes aufteilen (1). Diese ungleiche Machtverteilung hat sich seit 1995 in zwei Jahrzehnten dynamisch entwickelt und geht offensichtlich ungehindert weiter (2).

Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel

Im September 2014 hat das deutsche Bundeskartellamt die Ergebnisse der „Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel“ veröffentlicht. Die Gutachter kamen zu dem Schluss, dass das Beschaffungsvolumen, die Gesamtverkaufsfläche, die Anzahl der Standorte, die hohe Präsenz in allen Vertriebsschienen und ein breites Angebot von Hersteller- und Handelsmarken in allen Preissegmenten zu einer Dominanz der vier führenden Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland geführt habe. Die damit verbundenen Strukturvorteile können vom Handel bei Verhandlungen genutzt werden und sich zulasten der Hersteller auswirken (3). Obwohl die Handelskonzentration in Österreich weit höher ist als in Deutschland, ist eine vergleichbare Untersuchung der österreichischen Verhältnisse nicht bekannt.

Machtgefälle

Abgesehen von einigen Ausnahmen, wie Red Bull oder Agrana, sind die Betriebe der österreichischen Lebensmittelindustrie kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die sich vorwiegend im Familienbesitz befinden (4). Diese Austria-KMU produzieren für milliardenschwere europäische Handelskonzerne, die auf Angebote von Lieferanten in ganz Europa zugreifen können. Der Wettbewerb in der D-A-CH-Region in der Produktion, aber auch im Lebensmittelhandel und Diskont ist beträchtlich; der Druck auf die regionalen Hersteller durch die Handelskonzentration steigt. In Deutschland dominieren sechs Handelskonzerne drei Viertel des Lebensmittelhandels. In der Schweiz sind drei Handelsketten für drei Viertel des Umsatzes verantwortlich. Am höchsten ist das Nachfrage Oligopol (Oligopson) in Österreich, wo drei Handelskonzerne 85,7 Prozent des Marktes dominieren (5).

Das Gefälle im Machtgefüge zwischen den großen europäischen Handelskonzernen und den regionalen mittelständischen Herstellern in Verbindung mit dem enormen Wettbewerb im Lebensmittelhandel macht die Weitergabe von Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten in vielen Fällen zu einer „mission impossible“. Nicht ohne Grund hält der deutsche Ernährungsverband (DVE) es für notwendig, das Kartellamt zu ersuchen, dass eine Möglichkeit gefunden werden muss, „…wie Hersteller ihre Interessen kundtun können, ohne Nachteile befürchten zu müssen“ (6).

Monopolisierungstendenzen

„Der Preis für Haselnüsse hat sich nahezu verdoppelt und auch die Kakao-Preise sind gestiegen. Die Konsequenz aus dieser Entwicklung ist, dass viele Süßwarenhersteller die Verkaufspreise ihrer Süßwaren erhöhen müssen“, berichteten österreichische Medien zu Beginn dieses Jahres. Tatsächlich sind die Rohstoffpreise für mittelständische Lebensmittelhersteller zu einer großen Herausforderung geworden, seit die Preise für wichtige Rohstoffe der Lebensmittelherstellung, wie Weizen, Kakao, Saftkonzentrate, Öle, Fette oder Milchprodukte zunehmend in Bewegung geraten sind.

Seit 2008, dem Ausbruch der Sub-Prime-Krise und der darauf folgenden Finanzkrise, beobachtet die Food- and Agricultural Organization der United Nations (FAO) eine zunehmende Volatilität der Rohstoffpreise (7). Die Weltbank sieht schon seit 2010 einen signifikanten Anstieg des Volumens von Optionen und Terminkontrakten auf dem Rohstoffsektor durch den Einstieg von Index- und Hedgefonds in die Spekulation mit Rohstoffderivaten (8).

Ob und in welchem Ausmaß zwischen der steigenden Aktivität der Rohstoff-Fonds und der zunehmenden Fluktuation der Rohstoffpreise ein Zusammenhang besteht, ist zum Gegenstand heftiger Diskussionen geworden. Der Bundesverband der Ernährungsindustrie erwähnt das Thema Rohstoffspekulation in seinem Jahresbericht nicht explizit, beklagt jedoch wachsende Monopolisierungstendenzen der Rohstoffanbieter (9).

Hersteller in der Zwickmühle

Die auf lange Sicht steigenden und kurzfristig immer stärker schwankenden Rohstoffpreise verstärken den Druck auf die Ertragssituation der kleinen und mittleren Lebensmittelhersteller, die sich in der Zwickmühle zwischen globalen Rohstoffkonzernen – auf der Einkaufsseite – und internationalen Handelsketten – auf der Verkaufsseite – befinden. Die Konsequenz sind steigende Kosten und sinkende Erlöse.

Kurzfristige Engpässe und unkontrollierbare Preisschwankungen auf den Rohstoffmärkten empfinden viele Hersteller zu Recht als massive Bedrohung. Eine Umfrage belegt, dass 83 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland die Rohstoffpreise als Haupteinflussfaktor für ihr Geschäftsergebnis sehen. Sie messen den Rohstoffpreisen daher eine größere Bedeutung bei als der konjunkturellen Entwicklung (62 Prozent), den Energiepreisen (44 Prozent) oder der Euro-Krise (20 Prozent) (10).

Effizientes und effektives Rohstoff-Management genießt oberste Priorität im Management der Lebensmittelhersteller. Schließlich handelt es sich mit Abstand um die wichtigste Kostenposition, die außerdem am schwierigsten zu planen und zu kontrollieren ist. Die Hälfte der Befragten gibt an, dass die Rohstoffkosten in ihrem Unternehmen über 30 Prozent der Gesamtkosten ausmachen (11). Die regionalen Mittelständler sehen sich zunehmend eingeklemmt zwischen ihren Lieferanten – den internationalen Rohstoffkonzernen – und ihren Kunden, den internationalen Handelsketten.

Unsichere Agrarrohstoffe

Die stärker werdenden Preisschwankungen und die temporären Verknappungen einzelner Rohstoffe zwingen auch die mittelständischen Hersteller, ihren Bedarf an Rohstoffen durch Hedging zu sichern und sich mit Futures, Optionen und Termingeschäften auseinanderzusetzen. Der gravierende Unterschied zu Spekulation: die Hersteller brauchen Rohstoffe nicht nur auf dem Papier, als eine Art virtueller Digitalfotos, sondern sie kaufen Rohstoffe und verarbeiten sie zu hochwertigen Markenartikeln. Warentermingeschäfte sind für die Ernährungsindustrie ein wichtiges Instrument zur Preisfindung auf volatilen Agrarmärkten und zur Absicherung von Preisschwankungen bei Agrarrohstoffen. Damit Warenterminmärkte funktionieren können, sind Transparenz sowie eine ausreichende Anzahl an Marktteilnehmern und Liquidität erforderlich. Agrartermingeschäfte müssen in ihrer Funktionsweise gestärkt werden und als Absicherungsinstrument für die Ernährungsbranche erhalten bleiben; gleichzeitig gilt es Marktmissbrauch, zum Beispiel durch sogenanntes Cornern, vorzubeugen (12). Denn das Volumen dieses virtuellen Glasperlenspiels ist in den letzten eineinhalb Jahrzehnten geradezu explodiert: Täglich werden Kredite, Swaps und Optionen von mehreren hundert Milliarden gehandelt. „Die Finanzwirtschaft hat sich durch Spekulationen und Wetten verselbstständigt. Es sind Größenordnungen entstanden, die zur realen Produktion oder zur Wertschöpfung in keiner Beziehung mehr standen“, sagte der ehemalige deutsche Finanzminister Theo Waigel in einem Presse-Interview (13).

Private Labels vs. Markenartikel

Für die mittelständischen Markenartikel-Hersteller wird es aber nicht nur auf der Beschaffungsseite, sondern auch auf der Absatzseite immer schwieriger. Denn Markenartikel benötigen regelmäßig hohe Investitionen in Produktentwicklung, Marketing und Vertrieb. Eigenkapital und Cash-Flow vieler KMU-Markenartikler reichen jedoch auf Dauer nicht aus, um ihre österreichischen Markenartikel gegen die starke Konkurrenz der internationalen Lebensmittelkonzerne wettbewerbsfähig zu halten. Hinzu kommen der harte Wettbewerb im Lebensmittel-Einzelhandel, die zunehmende Rabattschlacht und die kontinuierlich steigende Marktmacht der internationalen Handelsketten. Diese brisante Faktorkombination bewirkt, dass die europäischen Handelskonzerne von ihren regionalen, mittelständischen Lieferanten ständig höhere Rabatte fordern. Es ist kein Zufall, dass seit 1995, dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, mehr als 40 % der Betriebe der Nahrungsmittelindustrie vom Markt verschwunden sind (14).

Hinzu kommt, dass viele regionale Hersteller gezwungen sind, zusätzlich zu ihren Markenartikeln auch Handelsmarken zu produzieren, um ihre Produktionslinien auszulasten. Für den Hersteller ist die Produktion einer Handelsmarke – also eine Lebensmittelproduktion ohne eigene Marke – ein ähnliches Geschäftsmodell wie die Herstellung eines Computers ohne Software. Nur der Kostenführer, also jenes Unternehmen, welches die niedrigsten Kosten – auch im Personalbereich – hat, kann auch Dauer im globalen Wettbewerb der Private-Label-Produzenten mithalten.

Antagonistische Business-Modelle

Beim Thema Handelsmarken divergieren Standpunkte, Meinungen und Überzeugungen von Herstellern und Händlern in maximalem Ausmaß. Das ist nicht überraschend, wenn man berücksichtigt, dass die Geschäftsmodelle von Handel und Herstellern vollkommen gegensätzlich sind: Der Handel erwirtschaftet seine Erträge über das Umlaufvermögen, welches möglichst rasch gedreht werden muss, um einen Hebeleffekt auf die Rentabilität zu erreichen. Die Hersteller hingegen brauchen leistungsfähige Maschinen und Anlagen; die dafür erforderlichen Investitionen sind – bezogen auf den Umsatz – sehr hoch, und die Amortisationszeiten auf dem kleinen österreichischen Markt – im Vergleich zum deutschen Markt, der zehnmal größer ist – erstrecken sich oft über mehrere Jahrzehnte. Ein gleichmäßiger Cash-Flow und konstante Preise sind daher entscheidend für Finanzierung und Amortisation. Das Geschäftsmodell der Hersteller basiert also auf kontinuierlichen Produktionsmengen, einem straffen Sortiment und stabilen Preisen. Diese Strategie steht im Konflikt mit den Zielen des Handels, der Flächenproduktivität und raschen Lagerumschlag benötigt, um im immer härter werdenden Wettbewerb erfolgreich zu bleiben. Um seine Ziele zu erreichen, muss der Handel kurzfristiger und taktischer agieren als der Hersteller: Aktionsrabatte von 25% und mehr sind für große Handelskonzerne kein Problem, sondern eine bewusst gewählte Taktik. Würde ein Hersteller diese Preispolitik des Handels anwenden, so würde er Selbstmord mit Anlauf begehen.

Marken vs. Handelsmarken

Die Verbraucher – die wahren Chefs an den Regalen der Supermärkte und Diskonter – hat der akademische Disput der Markenartikel-Gurus über Handelsmarken versus Herstellermarken jedoch nie wirklich interessiert. Denn trotz millionenschwerer Werbekampagnen, mit denen die Konsumenten seit Jahren ermahnt werden, doch bitte beim Einkauf auf die Marke zu achten, ist es den Creative Directors nicht gelungen, den Verbrauchern zu erklären, welchen Nutzen ihnen eine Unterscheidung zwischen Marken und Handelsmarken bringen soll. Und daher ist es – ja, natürlich – Herrn und Frau Österreicher egal, ob ihre Lieblingsmarke eine Herstellermarke oder Handelsmarke ist. Solange das subjektive Preis-Leistungsverhältnis stimmt.

Die Austro-KMU – klein, fein, international

Unter diesen Bedingungen ist es gleichermaßen erstaunlich wie bewundernswert, mit welcher Professionalität und Geschwindigkeit die Austro-KMU seit dem EU-Beitritt ihre Exporte aufgebaut haben: War es 1995 nur rund ein Sechstel, so gehen heute bereits über 60 % der österreichischen Lebensmittelproduktion ins Ausland. Österreichische Markenartikler haben es geschafft, ihren Marken eine qualitative und funktionsmäßige Alleinstellung zu verschaffen, sich gegen die internationale Konkurrenz zu behaupten und in einem beeindruckenden Tempo ihre Exporte aufzubauen. Denn, um es mit einem der bedeutendsten Unternehmer der Lebensmittelindustrie, Dkfm. Klaus Darbo (1945-2014), auf den Punkt zu bringen: „Es gibt keine gesättigten Märkte – nur gesättigte Verkaufsleiter!“

  1. Fachverband der Nahrungs- und Genussmittelindustrie Österreichs, RollAMA
  2. 1994 hatten die Top-3 Handelsketten in Österreich lt. AC Nielsen Market Research einen Marktanteil von 47 Prozent
  3. Bundesverband der Deutschen Ernährungsindustrie, Jahresbericht 2014-2015, S. 17
  4. Fachverband der Nahrungs- und Genussmittelindustrie Österreichs (FIAA)
  5. Fachverband der Österreichischen Nahrungs- und Genussmittelindustrie, RollAMA 2014
  6. Bundesverband der Deutschen Ernährungsindustrie, Jahresbericht 2014-2015, S. 17
  7. Food and Agricultural Organization of the United Nations, “What happened to world food prices and why”
  8. Weltbank (2010): “Placing the 2006/2008 Commodity Price Boom into Perspective”.
  9. Bundesverband der Deutschen Ernährungsindustrie, Jahresbericht 2014-2015, S. 35
  10. INVERTO Rohstoffstudie 2012 in Kooperation mit dem Handelsblatt und AMI, S.6
  11. Rohstoffmanagement in turbulenten Zeiten, INVERTO Rohstoffstudie 2012, S. 5
  12. Bundesverband der deutschen Ernährungsindustrie BVE Jahresbericht 2014_2015, S. 37
  13. Dr. Theo Waigel, ehemaliger deutscher Finanzminister, in DIE PRESSE vom 11.7.2013
  14. Im Zeitraum 1995 bis 2014 ist die Anzahl der Betriebe der österr. Lebensmittelindustrie laut FIAA-Statistik von 346 (1995) auf knapp 200 (2014) zurückgegangen.
Walter Schönthaler
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About Walter Schönthaler

Mag. Walter Schönthaler ist Marketingleiter der TÜV Austria Gruppe und Adjunct Professor der Webster University. Er war dreißig Jahre in führenden Positionen der Lebensmittelindustrie tätig, unter anderem als Vorstand von Manner und PEZ sowie als Geschäftsführer von Felix-Austria und Spitz.

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