CE-Kennzeichnung elektrischer Geräte

Darf die nach der Maschinenrichtlinie harmonsierte Norm EN ISO 12100 (Sicherheit von Maschinen) auch für Produkte angewandt werden, die der Niederspannungsrichtlinie unterliegen?

Am 20. April 2016 ist die zweijährige Übergangsfrist für die im Alignment Package im EU Amtsblatt L 96 vom 29. März 2014 veröffentlichten EU-Richtlinien abgelaufen. Damit herrscht jetzt endgültig Klarheit: Auch für Produkte, die der Richtlinie 2014/35/EU (Niederspannungsrichtlinie) unterliegen, muss eine Risikobeurteilung durchgeführt und dokumentiert werden! Erst dann darf die CE-Kennzeichnung erfolgen und die Konformitätserklärung rechtsverbindlich unterschrieben werden.

Im Gegensatz zur Maschinenrichtlinie wurde im EU-Amtsblatt in der Liste der harmonisierten Normen jedoch keine Norm veröffentlicht, die das Verfahren zur Durchführung von Risikobeurteilungen nach Niederspannungsrichtlinie regelt. Dies führt zur Frage, ob die nach der Maschinenrichtlinie harmoniserte Norm EN ISO 12100 auch für Produkte angewandt werden kann, die der Niederspannungsrichtlinie unterliegen. Diese und weitere Fragen behandelt der vorliegende Beitrag.

Welche Produkte fallen unter die Niederspannungsrichtlinie?

Neben Haushaltsgeräten und einer Fülle anderer elektrischer Geräte, wie zum Beispiel Überspannungsschutzgeräte, Elektromotoren sowie Audio- und Videogeräte, fallen auch für sich allein in Verkehr gebrachte Schaltschränke in den Anwendungsbereich der Niederspannungsrichtlinie. Eine detaillierte Auflistung ist in der Liste der harmonisierten Normen nach Niederspannungsrichtlinie im EU-Amtsblatt zu finden.

Niederspannungsrichtlinie 2014/35/EU, Anhang III, Modul A, Interne Fertigungskontrolle, 2. Technische Unterlagen: Der Hersteller erstellt die technischen Unterlagen: Anhand dieser Unterlagen muss es möglich sein, die Übereinstimmung eines elektrischen Betriebsmittels mit den betreffenden Anforderungen zu bewerten; sie müssen eine geeignete Risikoanalyse und -bewertung enthalten. […]

Schaltschränke für Maschinen

Im Maschinen- und Anlagenbau werden Schaltschränke häufig zugekauft. Dadurch ergibt sich eine wichtige Schnittstelle zwischen dem Maschinenbau und den Herstellern der Schaltschränke. Wenn zum Beispiel in der Maschine für die Absicherung eines Gefährdungsbereichs eine steuerungstechnische Schutzeinrichtung zum Einsatz kommt, befinden sich die Positionswächter dafür direkt an der Maschine, die Auswertegeräte und die Aktoren jedoch im Schaltschrank.

Der Schaltschrankbauer wird, sofern vertraglich nicht anders vereinbart, seine Risikobeurteilung auf die im Inneren des Schaltschranks liegenden elektrischen Gefährdungen beziehen. Mit dem Ausstellen der CE-Erklärung erklärt der Hersteller des Schaltschranks somit die Rechtskonformität des Schaltschranks für sich, aber natürlich nicht die Tauglichkeit des Schaltschranks im Zusammenspiel mit der Maschine. Diese zu prüfen liegt in der Verantwortung jenes Unternehmens, das die Maschine oder Anlage in Verkehr bringt.

Gesetzliche Forderung zur Risikobeurteilung

Anders als die Maschinerichtlinie enthält die Niederspannungsrichtlinie selbst keine Vorgaben, wie eine Risikobeurteilung in der Praxis konkret durchgeführt und dokumentiert werden muss — sie muss lediglich „geeignet“ sein.

Verwirrung um Normen

Die nach der Maschinenrichtlinie harmonisierte Norm EN ISO 12100 ist im Amtsblatt nach Niederspannungsrichtlinie nicht gelistet. Dies führt zur Frage, ob diese Norm dennoch für Risikobeurteilungen nach der Niederspannungsrichtlinie angewendet werden darf?

Abbildung 1 - Risikobeurteilung nach Niederspannungsrichtlinie: Zusammmenhang zwischen ISO/IEC Guide 51, CENELEC Guide 32 und EN ISO 12100 © Grafik: ibf.at

Abbildung 1 – Risikobeurteilung nach Niederspannungsrichtlinie: Zusammmenhang zwischen ISO/IEC Guide 51, CENELEC Guide 32 und EN ISO 12100 © Grafik: ibf.at

Bei der Beantwortung dieser Frage unterstützt die Darstellung in Abbildung 1: EN ISO 12100 wurde auf Basis des übergeordneten ISO/IEC Guides 51 (Safety aspects — Guidelines for their inclusion in standards) entwickelt. Darauf wird in der Einleitung der EN ISO 12100 hingewiesen — Zitat: „Soweit dies bei der Abfassung der vorliegenden internationalen Norm zweckdienlich war, wurde der ISO/IEC Guide 51 berücksichtigt.“

Dieser Guide richtet sich aber nicht an Konstrukteure und Planer, sondern an Hersteller von Normen. Somit wäre zu erwarten gewesen, dass EN ISO 12100 entweder auch nach der Niederspannungsrichtlinie als harmonisierte Norm gelistet wird, oder dass es parallel zur EN ISO 12100 eine Basisnorm für die Durchführung von Risikobeurteilungen nach Niederspannungsrichtlinie geben würde. Stattdessen wurde 2014 der CENELEC Guide 32 (Guidelines for Safety Related Risk Assessment and Risk Reduction for Low Voltage Equipment) entwickelt.

CENELEC Guide 32

Im Vorwort dieses Guides finden sich interessante Informationen zur Anwendbarkeit im Zusammenhang mit der Niederspannungsrichtlinie — Zitat: „The content of this guide reflects the requirements in the Low Voltage Directive 2014/35/EU.“

Ein Vergleich mit EN ISO 12100 zeigt, dass die Methoden im Grundsatz völlig identisch sind. Darüber hinaus existieren elektrotechnische Produktnormen, die auf dem ISO/IEC Guide 51 basieren und das Verfahren nach ISO 12100 auch für elektrotechnische Produkte als geeignet erklären. Ein Beispiel ist in EN 61010-1:2010 im Anhang J (Risikobeurteilung) zu finden — Zitat: „Im Folgenden ist ein Verfahren zur Beurteilung eines Risikos beschrieben, welches auf dem ISO/IEC Guide 51 (1999) basiert. Andere Verfahren sind in ISO 14971, SEMI S 10, IEC 61508, ISO 14121-1 (Anm.: heute ISO 12100) und ANSI TR3 beschrieben. Andere eingeführte Verfahren zur Risikobeurteilung können ebenfalls genutzt werden.“

Somit liegt man aus der Sicht des Verfassers grundsätzlich nicht falsch, wenn man auch für elektrische Geräte die nach der Maschinenrichtlinie harmonisierte Norm EN ISO 12100 anwendet. Viel wichtiger als sich in juristischen und normativen Details zu verlieren ist es, dafür zu sorgen, dass sich alle am Entwicklungsprozess beteiligten  Personen an der Risikobeurteilung projektbegleitend beteiligen.

Riskobeurteilung in der Praxis

Abbildung 2 - EN ISO 12100 Bild 1: Schematische Darstellung des dreistufigen iterativen Prozesses zur Risikominderung © Grafik: ibf.at

Abbildung 2 – EN ISO 12100 Bild 1: Schematische Darstellung des dreistufigen iterativen Prozesses zur Risikominderung © Grafik: ibf.at

Das pragmatische Vorgehen beschreibt am besten Bild 1 der EN ISO 12100 (siehe Abbildung 2). Es stellt den dreistufigen iterativen Prozess zur Risikominderung schematisch dar. Diese Darstellung findet sich in etwas einfacherer Form auch im ISO/IEC Guide 51 sowie im CENELEC Guide 32. Die wichtigsten Schritte bei der Risikobeurteilung sind:

  1. Festlegung der Grenzen des Produkts (bestimmungsgemäße Verwendung, vorhersehbare Fehlanwendungen, …)
  2. Identifizieren aller Gefährdungen in allen Lebensphasen, wie z.B. im Normalbetrieb, beim Reinigen, Umrüsten etc.
    Dazu dient eine beispielhafte Gefährdungsliste in Anhang B der EN ISO 12100 oder in Anhang A des CENELEC Guides 32.
  3. Für alle identifizierten Gefährdungen muss das Risiko eingeschätzt werden. Dass muss nicht für alle Gefährdungen dieselbe Person erledigen!
  4. Dann muss im Rahmen der Risikobewertung entschieden werden, ob das (Rest-)Risiko akzeptabel ist oder ob es (weiter) reduziert werden muss.
  5. Wenn das Restrisiko nicht akzeptabel ist, muss eine geeignete Risikominderung nach dem „Drei-Stufen-Verfahren“ erfolgen:
    1. Inhärent sichere Konstruktion
    2. Schutzmaßnahmen und
    3. Benutzerinformationen, falls das Risiko nicht mit den Maßnahmen der Stufen eins und zwei hinreichend gemindert werden konnte.

Besonders wichtig: Die Sicherheit muss im Konstruktionsprozess geplant werden! Leider kommt es in der Praxis viel zu häufig vor, dass Risikobeurteilungen erst durchgeführt werden, wenn das Produkt bereits hergestellt oder sogar ausgeliefert ist. Ein solches Vorgehen ist mit hohen wirtschaftlichen Risiken verbunden, wie das aktuelle Beispiel des Rückrufs des Samsung Galaxy Note 7 eindrucksvoll vor Augen führt.

Helmut Frick

Helmut Frick

Geschäftsführer bei IBF-Automatisierungs- und Sicherheitstechnik GmbH
Ing. Helmut Frick führt seit 1994 CE-Beratung mit Schwerpunkt CE-Organisation und Normenmanagement durch. Er ist Geschäftsführer der IBF-Automatisierungs- und Sicherheitstechnik GmbH und Projektleiter des Softwaresystems Safeexpert. Seit März 2016 ist das speziell für Hersteller elektrischer Geräte entwickelte Modul »Safexpert Niederspannungsrichtlinie« verfügbar.
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Ing. Helmut Frick führt seit 1994 CE-Beratung mit Schwerpunkt CE-Organisation und Normenmanagement durch. Er ist Geschäftsführer der IBF-Automatisierungs- und Sicherheitstechnik GmbH und Projektleiter des Softwaresystems Safeexpert. Seit März 2016 ist das speziell für Hersteller elektrischer Geräte entwickelte Modul »Safexpert Niederspannungsrichtlinie« verfügbar.

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