Das europäische Forschungsprojekt „Facts4Workers“ fokussiert auf innovative Informations- und Kommunikationstechnologien für „Smart Factories“. Die persönlichen Bedürfnisse und Anforderungen der Mitarbeiter stehen dabei im Mittelpunkt.
Produktionen wandern zunehmend aus europäischen Hochlohnländern in sogenannte Best-Cost-Länder ab oder an Standorte mit niedrigeren Energiekosten. Um diesem Trend entgegen zu wirken, ist die europäische Industrie gefordert, intelligente Wertschöpfungskonzepte im Produktionsbereich zu entwickeln.
„Die EU-Kommission will die schrumpfende Rolle der Industrie umkehren und die Attraktivität Europas als Produktionsstandort wiederherstellen“, so der zuständige Kommissar Antonio Tajani.
Mit mehr Investitionen in Fabriken sowie in Forschung und Entwicklung soll der Anteil der Industrie an der europäischen Wirtschaftsleistung bis 2020 auf 20 Prozent angehoben werden. Derzeit liegt dieser Wert bei rund 15 Prozent.
Worker Centric Workplaces
Ein großes Europäisches Forschungsprojekt stellt nun den Menschen ins Zentrum zukunftsweisender Produktionskonzepte um Fertigungsberufe deutlich attraktiver zu gestalten und Europa wettbewerbsfähiger zu machen. Seit 1. Dezember 2014 koordiniert das Virtual Vehicle Research Center in Graz das Projekt Worker Centric Workplaces in Smart Factories (kurz Facts4Workers genannt). 15 europäische Forschungspartner aus acht Ländern sind an einem eigens dafür gebildeten Konsortium beteiligt. Das Projektvolumen beläuft sich auf 7,9 Millionen Euro. Die vierjährige Forschungsinitiative wird im Rahmen von Horizon 2020 gefördert. Dabei handelt es sich um ein EU-Förderprogramm für Forschung und Innovation der Europäischen Kommission, das für den Zeitraum 2014 bis 2020 angelegt ist.
Ambitionierte Forschungsziele
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts sollen ein neues industrielles Zeitalter einläuten, das durch die sogenannte „Smart Factory“ gekennzeichnet ist. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden als so genannte „Smart Worker“ bestmöglich durch Informations- und Kommunikationstechnologie unterstützt, um flexibel, effizient und zuverlässig produzieren zu können. Dadurch werden lokale Wettbewerbsvorteile genutzt und (mittel)europäische Produktionsstandorte langfristig gesichert.
Smart Factory
In der Smart Factory, der Produktionsstätte der Zukunft, steht der Mensch als flexibelstes Element der Produktionsabläufe im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er wird hier als Produktions-Wissensarbeiter gedacht, d.h. beim Bedienen von Maschinen wird er durch optimierte Informations- und Kommunikationstechnologie, durch eine selbstlernende Arbeitsumgebung und durch in-situ-Lernen unterstützt.
Die angestrebte Digitalisierung wird nicht nur einzelne Fabriken, sondern die gesamten Wertschöpfungsnetzwerke betreffen. Dies kann durch so genannte „cyber-physische Systeme“ erreicht werden. Darunter versteht man Netzwerke aus informations- und softwaretechnischen Komponenten sowie mechanischen und elektronischen Teilen, die über das Internet oder andere Kommunikationsnetzwerke miteinander in Verbindung stehen.
Schlüsselfaktor Mensch
Neben dem technischen Zugang führt diese Änderung der Arbeitsplatzsituation auch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Rolle des Menschen als Schlüsselfaktor im Produktionsprozess. In diesem Zusammenhang spricht man von Wissensarbeit. Wissensarbeit hat nichts mehr mit den herkömmlichen automatisierten Routinetätigkeiten der Fabrikarbeit zu tun. Sie ist durch eine völlig neuartige, komplexe und autonome Arbeitsumgebung gekennzeichnet. Smart Worker entwickeln zudem selbst neue Möglichkeiten zur kontinuierlichen Verbesserung von Wissensaustausch an ihrem Arbeitsplatz.
Zufriedenheit und Motivation von Produktionsmitarbeitern erhöhen
„Es gilt zu hinterfragen, wie Menschen arbeiten und lernen, wie sie mit neuen Technologien interagieren und wie sie an einem attraktiven und fordernden Produktionsarbeitsplatz einen Mehrwert für die Industrie erzeugen können.“, verdeutlicht Martin Wifling, der Projektleiter von Facts4Workers am Virtual Vehicle Research Center in Graz. Die Antworten auf diese Fragen sind der Schlüssel zu erfolgreichen und mensch-zentrierten Lösungen von Informations- und Kommunikationsstrategien in Produktionsprozessen. Durch das Eingehen auf die Situation des Menschen im Produktionsablauf kann eine Erhöhung der Zufriedenheit und Motivation von Produktionsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern erreicht werden, welche insgesamt eine Steigerung der Produktivität um bis zu 10 Prozent bewirken kann. Der Haupt-Fokus des Forschungsvorhabens liegt jedoch vorwiegend darin, „den Arbeitsplatz in der Produktion in Europa deutlich attraktiver zu gestalten, damit mehr Menschen sich gezielt für dieses fordernde und sich verändernde Berufsfeld entscheiden“, so Wifling.
Das Hauptaugenmerk von Facts4Workers liegt auf folgenden Anwendungsfällen:
- Assistierter Maschinenbediener: Durch die Individualisierung von Produkten schrumpfen die Losgrößen. Gleichzeitig steigt die Anzahl hoch spezieller und rasch wechselnder Informationen aus unterschiedlichen Quellen. Die manuelle menschliche Tätigkeit ist jedoch weiterhin notwendig. Hier setzen innovative Interaktionsmechanismen ein, wie z.B. Datenbrillen, die Produktionsinformationen im Sichtfeld des Maschinenbedieners während der Arbeit einblenden. Die nach wie vor gängigen Checklisten, Arbeitsbeschreibungen, Anleitungen und Aufträge, die aus digitalen MES- und ERP-Systemen auf Papier ausgedruckt werden, werden nach und nach verschwinden.
- Menschzentriertes Wissensmanagement: Den Smart Workern werden notwendige Informationen zum richtigen Zeitpunkt bereitgestellt, um eine Verbesserung der Produktionsabläufe zu erzielen. Außerdem wird dadurch auch eine Kultur etabliert, in der Wissen freiwillig und pro aktiv geteilt wird. Hilfsmittel am Arbeitsplatz sollen intuitive Interaktionsmechanismen aufweisen und sprach-, berührungs- oder gestengesteuert sein, statt sich auf Texteingabe zu stützen. Erfahrungswissen kann z.B. durch grafische Animationen oder Videos besser vermittelt werden als in schriftlicher Form.
- Selbstlernende Arbeitsplätze: Maschinen, Werkzeuge und andere Infrastrukturen gelten in Smart Factories als intelligente Dinge. Werden ihre Daten effektiv miteinander verknüpft, können auch kleine Losgrößen effizient produziert werden. Bereits jetzt entstehen in der Produktion mehr Daten als jemals zuvor. Diese gilt es intelligent zu vernetzen. So können Wartung, Ersatzteilbestellung, Rüsten von Maschinen u.v.m. vorausschauend unterstützt werden.
- In-situ-Lernen in der Produktion: Beim in-situ-Lernen steht der Smart Worker als Lernender im Fokus. Mobile, personalisierte und situationsadaptive Lernsysteme unterstützen lebenslanges Lernen und die generationsübergreifende Weitergabe von Know-how, insbesondere im Kontext des demographischen Wandels.
Durch kontextbasiertes Lernen, Fabrikationslabor-Konzepte (FabLabs) oder Simulation in Virtual Reality Umgebungen werden neue Produktionsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter auf das Wissensniveau von Smart Workern gebracht.
Datenbrillen und Wearables liefern geeignete Ein- und Ausgabemöglichkeiten für viele Anwendungsfälle.
Mit der schrittweisen Realisierung von Smart Factories werden Produktionsstätten neu gedacht und Produktionsarbeit erfährt einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wertewandel. Produktionsstandorte können somit nicht nur technologisch und wirtschaftlich, sondern auch auf der sozialen Ebene stabilisiert werden.
Christian Pleschberger
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